Vor 135 Jahren begannen in Göschenen die Bauarbeiten am Gotthardtunnel. Die Aussicht auf Abenteuer und guten Verdienst lockte damals rund 3000 Arbeiter ins nasskalte Reusstal. Viele von ihnen stammten aus der Lombardei. Die Mineure wussten, dass sie harte, gefährliche Arbeit und viele Entbehrungen erwarteten. Vielleicht sogar der Tod. Aber mit etwas hatten sie nicht gerechnet: Mit den Essgewohnheiten der Urner.
Schon damals war der Kanton Uri der kulinarische Todesstreifen der Schweiz. Keine Pasta! Dafür Brühkugeln, geräuchertes Murmeltier und Blutküchlein. Kein Wein! Dafür selbstgebranntes Teufelszeug, das blind, debil und impotent machte. Keine Feigen! Dafür getrocknete Runzelbirnen. Der Gotthardtunnel wurde für damalige Verhältnisse in Rekordzeit gebohrt: Die Italiener wollten so rasch wie möglich wieder nach Hause zu Mama. Die armen Südländer überstanden die ganze 10-jährige Bauzeit in Göschenen nur dank eines Gerichts aus ihrer Heimat: Cazöla. Ein Eintopf aus Gemüse und Fleisch, den die Frauen der Mineure mit den in Uri erhältlichen Zutaten nachfälschten. Das glückte nicht so recht und jede Erinnerung an den leichtlebigen frischen Süden ertrank in der fettigen Brühe. Aber Cazöla machte satt und im zappendusteren Tunnel verzehrt, störte auch die kranke Farbe der Sauce nicht. Es fiel auch niemandem auf, dass es viel weniger Ratten auf der Baustelle gab, seit das Gericht auf dem Speiseplan stand.
Diesen Sommer erlebt die Cazöla oder Cazzuola in Göschenen eine Renaissance. Dank der Ausstellung „Cantina Transalpina“ und dem Theater „Die Gotthardbahn“ wird das Rezept wieder nachgekocht und mutigen Gästen zur historischen Aufarbeitung aufgetischt. Auch in der Küche der „Krone“ simmert die Mineursmahlzeit im Schmortopf mürbe. Alexandra Moers und Kai Stubenrauch, die neuen Besitzer und Gastgeber des umgebauten alten Chalethotels, rechneten auch nicht mit den Essgewohnheiten der Urner. Vorsichtig vertieft sich die Biologin in die Rezepte der schwer verständlichen Urner Küchenalchemie und kocht sie zeitgemäss nach. Für die Cazzuela nimmt Alexandra Moers Geräuchertes vom Schwein, ersetzt den sauren Roten durch einen kräftigen Gemüsefond mit Weisswein, und schon kann sie den Eintopf auch bei Tageslicht servieren. Während sie in der Küche hantiert, baut Kai Stubenrauch, ein fröhlicher Sportlehrer, den Weinkeller zur Sauna um. Verzeihbar wäre eine solche Schandtat nur durch einen erlebnisgastronomischen Kunstgriff: Die Sauna wird auf Tunnelbautemperatur aufgeheizt und die Cazzuela wird im romatisch-russigem Licht von Öllampen serviert. Wasser- und Stolleneinbruch auf Wunsch.
Text: Armin Meienberg