Ich kenne persönlich niemanden, der sie wirklich liebt. Vielleicht liegt es an ihrem Aussehen. Die Luzerner Chügelipastete sieht nämlich aus wie eine Schildkröte. Wie eine mit Schnickschnack verzierte Schildkröte. Deshalb sind wahrscheinlich die Luzerner Fasnächtler die Einzigen, die sich richtig freuen, wenn ihnen dieses lustige Gewölbe aufgetischt wird. Die Fasnachtszünftler haben die Luzerner Chügelipastete ungefragt “Fritschi-Pastete” getauft – nach Bruder Fritschi, einer prominenten Fasnachtsfigur. Am “Bärtelistag”– Berchtoldstag – treffen sich die fasnachtsvorfreudigen Narren zum gemeinsamen “Fritschi-Pastetenessen”, um sich für das bald danach beginnende Fasnachtstreiben zu stärken. Und dafür ist diese Blätterteigbombe genau das Richtige. Wer ein solches Ungetüm komplett verzehrt hat, hält locker bis zur Fastenzeit ohne feste Nahrung durch, und kann sich während der Fasnacht nur von Flüssigem ernähren.
Das Rezept der Chügelipastete gelangte vermutlich irgendwann im 18. Jahrhundert nach Luzern. Vermutlich hat es ein Offizier in fremden Diensten mit nach Hause gebracht. Mit grosser Wahrscheinlichkeit aus Frankreich, dem Land der Pasteten und des kulinarischen Brimboriums. Leider hat er unterwegs von Paris in die Innerschweiz die Gänseleber für die Füllung selber gegessen.
Schade, sonst stünde es nämlich viel besser um unser kulinarisches Aushängeschild. Aber die findigen Luzerner wussten sich zu helfen. Sie guckten einfach mal, was alles im Vorratsschrank und in der Kühlkammer rum lag und was keiner sonst verwenden wollte. Und das ganze unansehliche Durcheinander packten sie in die gebackene Teighaube und setzten einen Deckel drauf: Sieht ja eh keiner.
Da es kein verbindliches Rezept für die Luzerner Fritschi-pastete gibt, ist der Willkür keine Grenzen gesetzt, und darum rollen die Chügeli nun orientierungslos irgendwo zwischen Glückseligkeit und Zumutung hin und her. Sind die Zutaten für die Füllung nämlich von feinster Qualität, kann die Pastete eine “rüüdiggueti” Delikatesse sein. Aber meistens ist es nur ein knuspriges Blätterdach und darunter wohnt das Grauen.
Das Verstecken und Verdecken von unliebsamen Inhalten hat eine lange Tradition: Büchse der Pandora – Trojanisches Pferd – Kinderüberraschungsei und eben die Chügelipastete.
Es gibt auch eine offene Form, das langweilige “Luzerner Kügelipastetli”, wie es zum Beispiel im traditionellen Luzerner Prachtsgasthof, dem ehrwürdigen “Wirtshaus Galliker” am Kasernenplatz auf der Karte steht. Ausgerechnet an diesem wunderbaren Ort, wo Kalbskopf, Kutteln, Leberli und Gschnetzeltes zubereitet werden, wie sonst nirgendwo mehr. Ausgerechnet dort wird einem ein braves Blätterteig-Vogelnestlein mit kleinen Schrott-Brätkügeli in braver Weisser-Sonntags-Sauce aufgetischt. Eine Redaktorin des Gourmetmagazins “Der Feinschmecker” schrieb einmal, dass im Wirtshaus Galliker ein klassisches “Luzerner Küngelipastetli” serviert würde. Und kompetent erklärte sie dem ahnungslosen Leser: “Küngeli ist schweizerdeutsch und heisst Kaninchen.” So geht es einem, wenn man nicht den Deckel draufhält.
Also, was kann man alles unter der Blättertarnteighaube verstecken, um den ahnungslosen Esser zu verblüffen?
Ohne verbindliches Rezept ist fast alles erlaubt. Bei diesem kochtechnischen Rugbyspiel gewinnt, wer am dreistesten agiert und keine Regelen einhält. Die einzigen Mitspieler, die zwingend in diesem Gericht mitspielen müssen, sind natürlich die Chügeli. Und die dürfen nicht zu klein sein. Die grosse Dame der Schweizer Küche, die Luzerner Kochbuchautorin und Stadtluzerner Kulturpreisträgerin Marianne Kaltenbach, soll einmal einen Koch zusammengestaucht haben: Sie hätte eine Chügelipastete bestellt und kein Kugellager. Also beim Metzger die geissenböllelikleinen Brätkügeli links liegen lassen, dafür feines Kalbsbrät kaufen und die Chügeli selber formen. Und die sollten etwa die Grösse einer Mozartkugel haben. Dann einer Schweinsbratwurst das Wurstende kappen und das Innenleben aus der Pelle quetschen. Ebenfalls zu Chügeli verarbeiten. Beide Chügelisorten in Bouillon pochieren.
Was auch in den Blätterteigbauch rein muss, sind verschiedene Teile vom Kalb. Bis auf Hörner und Hufe, könnten wir fast das ganze Tier in die Pastete verarbeiten. Folgende mögliche Kandidaten für die Füllung stehen zur Auswahl: Kalbsschulter, Kalbsbäggli, Zunge, Milken, Nierli und Kalbsschwanz. Aber da die Fastenzeit nach der Fritschi-Pastete beginnt, beschränken wir uns vorsorglich auf nur zwei verschiedene Zutaten. Ich koche am liebsten einen Kalbsschwanz in Bouillon und fiesele das zarte Fleisch vom Knochen. Dazu Milkenstücklein, die ich ebenfalls halbgar pochiere. Kalbsschulter in mundgerechten Würfeln oder geschnittene Kalbsbäggli machen sich aber auch gut im gesamten Ensemble.
Auch die Knochen vom Kalb brauchen wir. Aus denen kochen wir einen konzentrierten Fond, eine “Demi-Glace”. Dafür werden Knochen vom Kalb scharf angebraten, bis sie fast schwarz sind und es in der Küche nach Stallbrand riecht. Dann kommt das Röstgemüse dazu: Rüebli, Sellerie, Zwiebel, Knoblauch, Petersilienwurzel und Lorbeerblätter, Gewürznelken, etwas Thymian und Rosmarin. Dann mit einer Flasche Primitivo ablöschen, damit man den nicht selber trinken muss. Einkochen, bis fast nichts mehr übrig bleibt. Dann nochmals eine Flasche opfern, denn ohne Verschwendung gelingt kein Fond. Das Gebräu wieder fast einkochen. Nur Mut, es kommt bald wieder Hochprozentiges ins Spiel. Jetzt mit einer Rinderbrühe aufgiessen und zwei Stunden köcheln lassen. Durch ein Sieb giessen und wieder reduzieren, bis die Konsistenz des Fonds an flüssigen Honig erinnert.
Bis jetzt war’s einfach. Aber jetzt beginnt die Kunst: Das Basteln der Pastetenform und das ist mühsam und schwierig. Einem echten Fasnächtler macht das natürlich nichts aus. Der bastelt ja auch seine Maske gerne selber. Und so unähnlich ist das Pastetenbacken gar nicht. Statt Papmaché nimmt man einfach sehr gut gekühlten Blätterteig. Jetzt muss die Grösse der Haube bestimmt werden. Manche backen eine Riesenschildkröte, über die dann die ganze Tafelrunde gierig herfallen kann, und die Sauerei auf dem Tischtuch ist so schon vorprogrammiert. Bei der Einpersonenpastete soll der Boden nicht grösser werden, als der Teller, auf der sie dann serviert wird. Die Form kann rund oder oval sein. Den Rand mit Eigelb bekleistern. Der Deckel muss etwa drei bis fünf Zentimeter mehr Durchmesser haben. Er muss sich schliesslich über der Füllung wölben. Dafür zerknüllt man Seidenpapier zu einer Kugel der gewünschten Grösse. Diese wird auf den Teigboden gepackt und darüber wird der Deckel drapiert. Die Ränder andrücken. Obendrauf braucht es jetzt noch einen zentimeterdicken Kreis mit fünf Zentimetern Durchmesser, in dessen Mitte nach dem Backen die Öffnung für die Füllung geschnitten wird. Und damit die Pastetenform nicht so schlicht und elegant aussieht, kommt jetzt das Ornament ins Spiel, weil irgend einmal ein Idiot gesagt hat: Das Auge isst mit. Hier beginnt die Kreativität, das Übel der guten Küche. Aus den Abschnitten und Teigresten kann man lustige Formen schneiden: Blümlein, Schnäggli, Windrädchen … alles was Freude macht und vom Inhalt der Pastete ablenkt. Sieht die Haube verziert aus wie Grossmutters Badekappe, wird sie in den vorgeheizten Backofen geschoben und knusprig gebacken. Dann wird die Öffnung entlang des Ringrandes oben sorgfältig mit einem scharfen Messer ausgeschnitten. Jetzt muss das Papier mit Schere und Pinzette aus dem Bauch entfernt werden. Das ist die letzte Gelegenheit, das Ding kaputt zu machen und dann den Pizzakurier zu bestellen. Hat man das Papier aber ohne Schaden herausoperiert, ist die Pastetenform zum Füllen bereit.
Also jetzt noch die Füllung fertigstellen. Es kann ja nicht nur Fleisch in der Pastete sein. Etwas Gesundes muss schon auch noch mit hinein. Also Rosinen in einem grossen Glas Cognac einlegen und zwei Stunden ziehen lassen. Und ein paar Champignons vierteln. Jetzt reichts aber mit Obst und Gemüse, es ist schliesslich noch lange nicht Aschermittwoch. Den Fond mit etwas Madeira und Bouillon aufkochen und alle Zutaten darin etwa eine Stunde lang sanft einkochen lassen. Mit etwas Pfeffer abschmecken, Salz braucht es wahrscheinlich nicht. Nun die Füllung mit eingekochter Sauce in die vorbereiteten Pastetenformen füllen und im Backofen nochmals aufwärmen.
Die Luzerner Chügelipastete ist eine komplizierte und schwer durchschaubare Angelegenheit: Lange Vorbereitung, kurzer Genuss und danach viel zum Verdauen. Das Gericht ist nicht umsonst eine Ikone der Luzerner Fasnacht. Man kann heftig darüber diskutieren welche Fasnacht nun die originellere oder ursprünglichere sei: Die der Basler oder die der Luzerner. Auf kulinarischer Ebene haben die katholischen Luzerner auf jeden Fall mit ihrer barocken Chügelipastete den Basler Beppies locker den Marsch geblasen. Basler Mehlsuppe? Pfui!
Bild- und Textband MEIN LUZERN
http://herausgeber.ch/
herausgeber.ch
Kulturbuchverlag
Optingenstrasse 54
3013 Bern (Schweiz)
Daniel Gaberell, Inhaber
FOTOS
Franca Pedrazzetti
TEXTE
Armin Meienberg
Rolf Dobelli
Heidi Gmür
Matthias Burki
Daniel Gaberell
Valentin Groeber
Christoph Fellmann
Pirmin Bossart
Mauro Guarise
144 Seiten, Format 24x 30 cm, Pappband, Fadenheftung.
Erschienen im 2012
ISBN 978−3−905939−16−3, Fr. 48.-