Kürzlich erhielten wir ein Briefing für die Neugestaltung einer Lehrmittelserie. Eine Vorgabe für das Neukonzept gefiel mir ausserordentlich: In Grafiken sei auf die Verwendung von Rot und Grün zu verzichten (9% der Lernenden sind rot-grün-blind).
Ich nehme an, der weitsichtige Verlagsmitarbeiter gehört auch zu diesen 9%. Das ist ein nicht zu unterschätzend hoher Bevölkerungsanteil mit einer angeborenen Behinderung, die nicht sichtbar und deshalb verkannt wird. Eigentlich ein Skandal! Aber die Rot-Grün-Blinden haben nun mal keine Lobby.
Nicht, dass mich diese gestalterische Einschränkung beim Entwerfen des Lehrmittels stört. Ich bin nämlich auch ein Rot-Grün-Blinder und ich kann ja nicht mit etwas gestalten, das ich gar nicht sehen kann. Also bin ich in diesem Fall Fachmann, dank dieser Behinderung.
Wenn man nun jemandem von dieser Farbsehschwäche erzählt, passiert meistens dies: Das Gegenüber zeigt auf seinen Campari oder hält einem die Hand mit den lackierten Fingernägel vor die Nase. “Was siehst Du?” Natürlich Campari und rote Nägel, was denn sonst. So blind sind wir Rot-Grünies dann doch nicht. Heikel wird es erst, wenn diese beiden Farben sich nahe kommen oder sich vermischen. So sehe ich zum Beispiel keine Frösche im Tomatensalat und mir bleibt der Anblick von kitschigen Mohnfeldern erspart. Damit kann ich leben.
Aber eine Behinderung ist es doch. Eine Reihe von Berufen dürfen wir 9% Männer nicht ausüben. So konnte ich nicht meinen Traumberuf wählen: Kampfpilot oder Kosmetikverkäuferin. Gestalter hätte ich auch nicht werden dürfen. Aber ich war der einzige meines Jahrgangs, der beim Diplom einen 6er in Farbenlehre geschossen hatte.
Das mit der Farbensichtigkeit ist also nicht ganz durchsichtig. Neulich bin ich an der Hochschule Design & Kunst vorbeigelaufen. Und wenn es nach der Kleiderzusammenstellung und den Haarfarben der Studierenden ginge, studieren da nur Farbenblinde.
Auch bei uns im Atelier bin ich oft nicht sicher, ob ich hier der einzige Farbdefekte bin. Renato hat eine atemberaubende Auswahl an Bunthemden und T-Shirts. Mit ihnen drückt er seine Stimmung und Tagesverfassung aus. Zum Beispiel mit seinem “Harry-Belafonte-Zuckerrohrschneider-Hemd” oder das “Welke- Magnolie-bei-Sonnenuntergang”-Modell. Bei schlechtem Wetter und im Winter macht er uns mit Shirts und Pullovern aus der Serie “Irgendwo-scheint-die-Sonne” Hoffnung und Mut. Aber das Schärfste ist seine Badehose mit dem haifischabschreckenden Farbmuster und der wasserundichten I-Phone-Hosentasche.
Viel subtiler geht Andrea mit Farben um. Reden wir mal nicht vom Nagellack. Sie ist für unsere Teeauswahl zuständig. Und da gehen Welten in Wasserfarbe auf: Die ganze auyurvedische Farbenlehre und Yogisaftigkeit. Man wird schon vom Hingucken gesund und eingemittet. So viele sanfte Töne in unseren Tassen sind natürlich nichts für unseren Urner Rüpel Renato: “Dammi, wann gibts endlich wieder einmal Schwarztee?”
Jüre ist vermutlich weiss-blind. Er übersieht tagelang die sich vor ihm auf dem Pult stapelnden Espressotassli und beim Kafiservieren vergisst er immer die weissen Untertellerli.
Für unseren Praktikanten Christian ist die farbige Welt ein Fest. Seine Devise: Geh hin und verschlinge alles was farbig ist. Seine Farbpalette schliesst alles Essbare von fleischfarbig bis fliegenpilzrot ein. Ausser Brokkoligrün. Sein massiv aggressives Fressverhalten führte dazu, dass wir uns eine schwarze Atelier-Katze halten und im Kühlschrank die Glühbirne rausschrauben mussten.
Also so schlimm ist die Rot-Grünblindheit nicht, angesichts des allgemeinen Farbverhaltens der anderen 91% der Menschheit. Und so machen wir nun aus dieser Rot-Grün-Blindenkompetenz eine neue Profilierung unseres Ateliers. Wir hängen ein Schild raus: “Farbenfrohe Farbkonzepte für Farbenblinde. Auch ohne Voranmeldung.”
Text: Armin Meienberg